Können wir die Digitale Barrierefreiheit mittels KI fördern?

Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde – ob in der Wirtschaft, in der Verwaltung oder in der Bildung – und daher auch bei uns im ZHQ. Gleichzeitig wird Barrierefreiheit im digitalen Raum zunehmend als Grundbedingung für gesellschaftliche Teilhabe verstanden. Aber wie können wir beides zusammen denken? Kann genKI tatsächlich Barrieren im Hochschulkontext abbauen – oder droht sie, neue zu schaffen?

Ein Blick auf aktuelle Tools, Studien, Anwendungen und Erfahrungen zeigt: GenKI bietet vielversprechende Ansätze für mehr digitale Barrierefreiheit – allerdings mit erheblichen Einschränkungen, gerade wenn es um Teilhabe und Mitbestimmung betroffener Menschen geht.

Die Realität: Studieren mit Behinderung bleibt herausfordernd

Über 470.000 Studierende in Deutschland (rund 16 %) gaben in der Sozialerhebung 2021 an, durch eine gesundheitliche Beeinträchtigung im Studium eingeschränkt zu sein. Besonders häufig sind demnach psychische Erkrankungen, gefolgt von Seh- und Hörbeeinträchtigungen sowie chronischen Krankheiten. Die digitale Infrastruktur vieler Hochschulen wird von Betroffenen als unzureichend wahrgenommen. Diese Ergebnisse hat Kolja Härdrich, ein Student der HAW Hamburg, 2024 in einem Zeitschriftenartikel zusammengefasst. Digitale Barrierefreiheit ist laut Härdrich an den meisten Einrichtungen noch lange nicht selbstverständlich – trotz gesetzlicher Vorgaben wie der UN-Behindertenrechtskonvention oder der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.1).

Die Hoffnung: Wie generative KI bestehende Barrieren abbauen kann

Die gute Nachricht: KI-basierte Technologien zeigen, dass digitale Teilhabe durchaus technologisch unterstützt werden kann. Aktuelle Anwendungen umfassen:

  • Text-to-Speech und automatische Untertitelung: Tools wie Microsoft Teams, Webex oder YouTube-Transkriptionen helfen Studierenden mit Hörbeeinträchtigung, Vorlesungen zu folgen – auch bei fehlender Gebärdensprache.
  • Leichte und einfache Sprache durch LLMs: Projekte wie Gehirngerecht Digital zeigen, wie Large Language Models Texte automatisiert vereinfachen – wichtig zum einen für Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Lernschwierigkeiten und zum anderen für Nicht-Muttersprachler:innen.
  • Bildbeschreibungen und Alt-Texte: Visuelle Inhalte lassen sich über Dienste wie Azure Vision oder GPT4o automatisch in verständliche Beschreibungen umwandeln – ein Fortschritt für barrierefreies Design und hilfreich für blinde Nutzer:innen. Auch Microsoft PowerPoint bietet mittlerweile eine integrierte KI-Funktion, die Bilder analysiert und automatisch passende Alternativtexte vorschlägt. Das senkt die Einstiegshürde für barrierefreies Design deutlich – ersetzt aber nicht die menschliche Prüfung.
  • Gebärdensprach-Avatare: Erste KI-gesteuerte Avatare dolmetschen Texte in Gebärdensprache. Noch nicht perfekt, aber ein vielversprechender Ansatz (vgl. Tollwerk 2024).
  • Eye-Able & Overlay-Tools: Diese browserbasierten Assistenzen passen Kontraste, Schriftgrößen oder die Navigation von Webseiten individuell an und ermöglichen dadurch einen niedrigschwelligen Zugang zu Webinhalten – ein Ansatz, der laut Eye-Able künftig auch mit KI-gestützten Tools erweitert werden soll.
  • Chatbots und digitale Assistenz: Sie bieten automatisierte Beratung, insbesondere in organisatorischen Fragen. Für viele sind sie eine niederschwellige Alternative zu persönlichen Gesprächen – sei es aufgrund der zeitlichen Flexibilität oder bezogen auf sensible Themen.

Klassische Tools: Wichtig – aber nicht (nur) KI

Neben diesen KI-basierten Innovationen gibt es in etablierten Programmen wie Microsoft Word oder PowerPoint schon lange Werkzeuge zur Barrierefreiheitsprüfung. Diese arbeiteten bislang regelbasiert, also ohne künstliche Intelligenz im engeren Sinne.

Beispiele:

  • Word & PowerPoint prüfen Dokumente auf fehlende Alternativtexte, problematische Tabellenstrukturen oder Farbkontraste – eine wichtige Grundlage, die jedoch keine inhaltliche Bewertung vornimmt.
  • Adobe Acrobat Pro bietet einen Barrierefreiheitsassistenten, der Tags, Lesereihenfolge und logische Struktur von PDFs überprüft – und standardkonform macht.

Diese Tools sind essenziell, um formale Anforderungen der WCAG oder BITV zu erfüllen. Sie bieten aber keine semantische Interpretation – und erkennen nicht, ob ein Alt-Text wirklich zum Bild passt oder ein Text sprachlich verständlich ist. Genau hier setzt generative KI an: Sie erweitert die bestehenden Tools um kognitive Fähigkeiten, also Analyse, Interpretation und – in Teilen – kreatives Umschreiben.

Neu ist nun bei Adobe Acrobat der KI-Assistent. Mit diesem können Nutzer:innen Fragen zu den Dokumenten stellen – und erklärende Antworten in einfacher Sprache erhalten; sich die Inhalte zusammenfassen oder ganze Inhaltsangaben erstellen lassen. Diese Funktionen gehen also weit über die regelbasierte Barrierefreiheitsprüfung hinaus.

Die Ernüchterung: Was KI (noch) nicht leisten kann

Trotz aller Fortschritte darf man die Grenzen nicht übersehen. So ist generative KI nicht in der Lage, komplexe soziale Kontexte, Emotionen oder Ironie zuverlässig zu verstehen (vgl. netz-barrierefrei.de). Auch Inhalte in Fachsprache, Dialekten oder mit Genderzeichen führen oft zu Fehlinterpretationen durch Text-to-Speech-Programme.
KI-Systeme als Blackbox führt zudem dazu, dass technik-inhärente Mechanismen nicht transparent sind. Es bleibt den Nutzer:innen also unklar, wie Verzerrungen oder Urteile in den Ausgaben entstehen.

Overlay-Tools wie Eye-Able können ebenfalls keine vollständige Barrierefreiheit garantieren. Wie Verdure zeigt, verändern sie teils nur kleine Teile einer Webseite – was für Nutzer:innen mit Screenreader sogar kontraproduktiv sein kann.

Kritisch betrachtet: Generative KI und das Mitspracherecht Betroffener

Ein zentrales Problem wird in vielen Beiträgen klar benannt: Menschen mit Behinderung werden in der Entwicklung und Anwendung von KI-Tools häufig nicht ausreichend einbezogen. Die Folge: Lösungen werden für statt mit den Betroffenen entwickelt. Das kann zu sogenanntem „Techno-Ableismus“ führen – also zu gut gemeinten, aber realitätsfernen Lösungen, die neue Abhängigkeiten oder Barrieren erzeugen (vgl. Härdrich, ARD Audiothek 2024).

Betroffene verlieren damit an Kontrolle über die Gestaltung ihrer digitalen Lernumgebung. Sie wissen oft nicht, wie KI-Systeme wie LLMs zu Entscheidungen kommen, welche Daten genutzt wurden und können keine fundierte Rückmeldung dazu geben – ein klares Machtgefälle. Auch Datenschutz und die freiwillige Nutzung sind zentrale Fragen: Viele wollen verständlicherweise keine sensiblen Gesundheitsdaten preisgeben – was wiederum die Qualität der Trainingsdaten senkt („Data Desert„).

Fazit: Werkzeug, nicht Wundermittel

KI kann digitale Barrierefreiheit in der Hochschullehre sinnvoll unterstützen – wenn sie bewusst, transparent und partizipativ eingesetzt wird. Sie ist kein Ersatz für menschliche Verantwortung oder strukturelle Reformen. Digitale Inklusion entsteht nicht durch Automatisierung, sondern durch Empathie, Dialog und Beteiligung.

Hochschulen und Entwickler:innen sollten sich fragen:

  • Wer profitiert – und wer wird ausgeschlossen?
  • Sind Betroffene Teil des Entwicklungsprozesses?
  • Wer kontrolliert die Ergebnisse – Mensch oder Maschine?

Die Antwort auf die Ausgangsfrage lautet also: Ja, generative KI kann Barrierefreiheit fördern – aber nur, wenn sie von Beginn an inklusiv gedacht wird.

Digitale Barrierefreiheit an der FH Aachen (ohne KI):

Diese Liste an Weiterbildungsmöglichkeiten und Tools funktioniert (noch) ganz ohne KI:

  • Nutzen Sie die durch das ZHQ angebotenen Schulungen und Kurz-Workshops zur Erstellung und Prüfung von Dokumenten auf Barrieren
  • Testen Sie doch einmal selbst aus, wie ein Dokument mit Hilfe eines Screenreaders vorgelesen wird, mit der „Sprachausgabe“ bei Windows 11 oder das „VoiceOver“ von Mac
  • Für unsere Hochschulwebsite sowie unsere Lernplattform ILIAS nutzen wir die Software EyeAble, hiermit lassen sich auch Kontraste checken oder verändern, um Inhalte besser wahrnehmen und lesen zu können.

Quellen und nützliche Links

Auf dieser ILIAS-Seite finden Sie hilfreiche Handreichungen, die Sie bei der Erstellung von barrierefreien Dokumenten unterstützen. Weiterführende Literatur, Publikationen und nützliche Links erleichtern den Einstieg in die digitale Barrierefreiheit.

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Laura Heine
Wiss. Mitarbeiterin |  Beiträge

Studierte Medienwissenschaftlerin (MA) und Digital Learning Managerin. Mitglied des Arbeitsbereichs E-Learning im ZHQ.

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